Kernempfehlungen

(Tab. 1)

Tab. 1 Kernempfehlungen

1. Einleitung

Die COVID-19-Pandemie hat sowohl Patienten mit entzündlich rheumatischen Erkrankungen (ERE) als auch Rheumatologen vor besondere Herausforderungen gestellt. Ziel der ersten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie e. V. (DGRh) vom 30.03.2020 war es, Hilfestellung für spezielle Belange in der Betreuung von Patienten mit ERE angesichts der Bedrohung durch SARS-CoV-2 zu geben [1]. Die damaligen Empfehlungen beruhten auf einem Expertenkonsens und waren weitgehend „nicht-evidenzbasiert“. Nachdem inzwischen erste wissenschaftliche Daten aus Registern, Querschnittstudien, Fallberichten und Fallserien vorliegen, soll dieses Update die bisherigen Empfehlungen aktualisieren und um neue Erkenntnisse erweitern. Diese DGRh-Empfehlungen reflektieren primär die Situation in Deutschland und weichen möglicherweise von anderen nationalen oder von internationalen Richtlinien ab.

Die Handlungsempfehlungen basieren auf einer Literatursuche der bis zum 15.06.2020 verfügbaren Publikationen, die als gesonderte Arbeit veröffentlicht wird (in Vorbereitung). Das aktuelle Evidenzniveau von Veröffentlichungen zum Management von Patienten mit ERE im Kontext von COVID-19 beträgt höchstens Grad 3 (Systematik des Oxford Centre for Evidence-Based Medicine von 2011), da es noch keine prospektiven, randomisiert kontrollierten Studien gibt. Daher wurden auch die vorliegenden Handlungsempfehlungen bei Informationen, welche nicht durch entsprechende Studien abgedeckt sind, durch Analogieschlüsse aus länger bekannten Virusinfektionen und durch Meinung der Experten ergänzt.

Das vorliegende Update für die Betreuung von Patienten mit ERE im Rahmen der SARS-CoV-2/COVID-19-Pandemie adressiert präventive Maßnahmen (wie Hygienemaßnahmen oder Impfungen) und den Umgang mit immunmodulatorischen/immunsuppressiven Medikamenten. Dabei wird insbesondere zu folgenden Fragen Stellung genommen:

  1. 1.

    Risikoeinschätzung: Wie hoch ist das Risiko für Patienten mit ERE bzw. unter antirheumatischer Therapie für eine Infektion mit SARS-CoV-2 und für einen schweren Verlauf von COVID-19?

  2. 2.

    Prävention und Management: Bedarf es besonderer Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen für Patienten mit ERE?

  3. 3.

    Umgang mit Medikamenten: Wie sind die Empfehlungen zum Umgang mit antirheumatischen Medikamenten bei Patienten mit ERE?

Ein wichtiges Ziel dieser Empfehlungen ist, Schäden für Patienten durch eine unbegründete Einschränkung der Versorgung zu verhindern [2].

Die DGRh wird ihre Empfehlungen bei neuen Aspekten weiterhin aktualisieren und diese wie auch weitere Informationen zur COVID-19-Pandemie laufend auf ihrer Homepage (www.dgrh.de) veröffentlichen. Es wird zudem empfohlen, dass sich jeder Arzt fortlaufend über neue diagnostische und therapeutische Entwicklungen bezüglich COVID-19 informiert, da sich hieraus kurzfristig Abweichungen zu diesen Konsensusempfehlungen ergeben können. Im Einzelfall kann ein Abweichen von diesen Empfehlungen sinnvoll sein.

2. Risikoeinschätzung: Wie hoch ist das Risiko für Patienten mit ERE an sich und wie hoch das für Patienten mit ERE unter antirheumatischer Therapie für eine Infektion mit SARS-CoV-2 und für einen schweren Verlauf von COVID-19?

2.1 Nachweis einer durchgemachten Infektion mit SARS-CoV-2

Mit zunehmender Dauer der Pandemie steigt der Anteil von Patienten, welche sich mit SARS-CoV-2 auseinandergesetzt haben, unabhängig davon, ob COVID-19-Symptome vorgelegen haben. Zukünftig kann es wichtig werden, das individuelle Infektionsrisiko durch Kenntnis eines (möglicherweise protektiven) Immunstatus der Patienten gegen SARS-CoV-2 abschätzen zu können. Momentan kann aber aufgrund fehlender Daten zur Antikörperbildung und -persistenz, insbesondere unter Immunsuppression und wegen eingeschränkter bzw. unklarer Spezifität und Sensitivität der Testverfahren noch keine Empfehlung für ein Screening von Patienten mit ERE auf Antikörper ausgesprochen werden. Zudem kann noch nicht beurteilt werden, ob das Risiko für eine Re-Infektion oder die Kontagiosität bei Nachweis von IgG-Antikörpern gegen SARS-CoV-2 reduziert ist. Somit wird auch im Falle eines positiven Antikörpertests dringend davon abgeraten, die allgemeinen und speziellen Maßnahmen zur Infektions- und Fremdansteckungsprophylaxe einzuschränken.

2.2 Risikoeinschätzung für Infektion und schweren Verlauf

Patienten mit ERE haben unter besonderen Voraussetzungen ein erhöhtes Infektionsrisiko für bestimmte Infektionen [3,4,5]. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) zählen Patienten unter Immunsuppression zu den besonders gefährdeten Patientengruppen [6]. Daten aus COVID-19-Registern, Fallserien und Fallberichten legen aber nach derzeitigem Wissensstand nahe, dass Patienten mit ERE im Vergleich zur nicht rheumatisch erkrankten Bevölkerung kein grundsätzlich erhöhtes Risiko einer Infektion mit SARS-CoV-2 aufweisen [7,8,9,10,11]. Auch zeigen die bisherigen Daten mehrheitlich, dass COVID-19 bei Patienten mit einer ERE nicht schwerer verläuft als bei nicht rheumatisch erkrankten Personen [7,8,9, 12, 13]. Ebenso gibt es momentan keine überzeugende Evidenz, dass – mit Ausnahme der Glukokortikoide (s. unten) – die medikamentöse antirheumatische Therapie ein Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19 bei Patienten mit ERE darstellt [11].

Die derzeitige Datenlage lässt annehmen, dass das Risiko für einen schweren Verlauf bei einer unzureichend eingestellten ERE vermutlich erhöht ist [14, 15]. Da jede Veränderung der laufenden antirheumatischen Therapie eine potenzielle Destabilisierung der Krankheitskontrolle nach sich zieht, sollte daher bei Patienten mit gut eingestellter Erkrankung die medikamentöse antirheumatische Therapie nicht abweichend vom üblichen Vorgehen verändert oder pausiert werden (s. auch 4.1).

Es ist wahrscheinlich, dass die bekannten Risikofaktoren für einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung (Tab. 2) auch für Patienten mit ERE gelten [9, 16]. Dies ist von besonderer Bedeutung, da viele ERE eine erhöhte Prävalenz dieser Risikofaktoren bzw. Komorbiditäten, wie z. B. Adipositas, metabolisches Syndrom und kardiovaskuläre Erkrankungen, aufweisen [17, 18].

Tab. 2 Mögliche Risikofaktoren für schwere Verläufe von COVID-19 [15, 19, 20]

3. Prävention und Management: Vermeidung von Infektionen und Schutzmaßnahmen

  • Es gelten die vom Robert Koch-Institut [21] und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [22] für die Allgemeinbevölkerung und für speziell gefährdete Personen beschriebenen und regelmäßig aktualisierten grundsätzlichen Verhaltens- und Vorsichtsmaßnahmen. Besondere, darüber hinaus gehende Maßnahmen werden nicht generell empfohlen.

  • Eine Arbeitsunfähigkeit im Kontext der COVID-19-Pandemie allein wegen der rheumatischen Erkrankung und ihrer Behandlung ist nicht gerechtfertigt. Bei besonderer Gefährdung sollten die Risiken individuell beurteilt werden. Es kann ein Attest ausgestellt werden, dass eine immunmodulatorische/immunsuppressive Therapie besteht. Damit können die Patienten sich an Betriebsärzte/Amtsärzte/Arbeitgeber wenden und klären, ob es nötig ist, einen Arbeitsplatz mit Kontaktminimierung/-vermeidung zu erhalten (Attestvorlage s. Link auf www.dgrh.de).

  • Angesichts der aktuellen Situation in Deutschland und unter Abwägung von Nutzen und Risiko besteht keine Notwendigkeit, Arztbesuche nur unter dem Aspekt der Reduktion des Infektionsrisikos zu vermeiden.

  • Notwendige stationäre Behandlungen sollen nicht verzögert werden.

  • In den Praxen und Ambulanzen müssen entsprechende Verhaltens- und Hygienemaßnahmen gewährleistet sein. Es sollten intelligente Sprechstundenplanungen durchgeführt werden (u. a. für kurze Wartezeiten, Einhalten nötiger Abstandsregeln, Minimierung der Zahl von Begleitpersonen).

  • Um Kontakte zwischen potenziell SARS-CoV-2-Infizierten und Rheumatologen bzw. zwischen Infizierten und rheumatologischen Versorgungseinrichtungen zu vermeiden/zu minimieren, sollen Patienten im Vorfeld informiert werden, nicht mit Krankheitssymptomen oder nach Kontakt zu nachweislich SARS-CoV-2-Infizierten in die Einrichtung zu kommen. In solchen Fällen oder nach Aufenthalt in einem Hochendemiegebiet („Hotspot“) soll zunächst telefonisch mit der Praxis Kontakt aufgenommen werden.

  • Typische (s. Tab. 3) COVID-19-Symptome oder Kontakte zu Erkrankten können vorab erfragt werden.

  • Zur Unterbrechung von Infektionsketten und Eindämmung einer neuen möglichen Infektionswelle ist Patienten der Einsatz der jetzt verfügbaren „Corona-Warn-App“ empfohlen [23].

  • Entsprechend den STIKO-Empfehlungen sollte der Impfstatus aktualisiert werden (Schwerpunkt: Pneumokokken-Impfung, Influenza-Impfung sobald für die Saison 2020/2021 verfügbar).

Tab. 3 Häufige Symptome von 104 an COVID-19 erkrankten Patienten mit entzündlich rheumatischen Erkrankungen in Deutschland [16]

4. Therapie bei SARS-CoV-2-Infektion sowie von COVID-19

  • Die Behandlung der SARS-CoV-2-Infektion sollte durch den Hausarzt (milde Fälle), einen Infektiologen, Pneumologen oder ggf. durch einen Intensivmediziner (schwere Fälle) gesteuert werden.

  • Rheumatologen sollten bei der Entscheidung, die antirheumatische Therapie beizubehalten, zu reduzieren oder zu pausieren, immer einbezogen werden.

  • Zahlreiche immunmodulatorische Therapien werden bei COVID-19-Patienten in Studien getestet (u. a. Hydroxychloroquin, Colchicin, Tocilizumab, Sarilumab, Anakinra, Canakinumab, JAK-Inhibitoren). Die DGRh sieht zwar in der Anwendung dieser Substanzen zum Teil potenziell vielversprechende therapeutische Ansätze, empfiehlt aber den Einsatz zunächst in klinischen Studien. Dies soll auch die Verfügbarkeit von „disease modifying anti-rheumatic drugs“ (DMARDs) für die Behandlung von Patienten mit EREs gewährleisten.

  • Wir fordern dazu auf, Patienten mit ERE und einem positiven Test auf SARS-CoV-2 (PCR und/oder Antikörpertest) in dem COVID-19-Register der DGRh (COVID19-rheuma.de) zu dokumentieren.

Es gelten weiterhin folgende spezielle Empfehlungen:

4.1 Patienten ohne Infektzeichen

Bestehende antirheumatische Therapie

  • Die Behandlung mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), Glukokortikoiden (GC), konventionell synthetischen DMARDs (csDMARDs), „targeted synthetic DMARDs“ (tsDMARD), „biologic DMARDs“ (bDMARDs) und Immunsuppressiva (z. B. Azathioprin, Cyclophosphamid) sollte, sofern aufgrund der ERE indiziert, unverändert fortgesetzt werden und nicht allein aus Furcht vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 beendet oder in der Dosis reduziert werden.

  • In rheumatologischen Indikationen sollte Hydroxychloroquin (HCQ) wie bisher eingesetzt werden. Ein vermuteter protektiver Effekt von HCQ bei COVID-19 konnte bislang nicht belegt werden.

  • Für Rituximab (RTX) gibt es widersprüchliche Daten hinsichtlich des Verlaufs von COVID-19 bei ERE. Da auch über fatale Verläufe berichtet wurde, sollte bei der Anwendung von RTX für Indikationen ohne potenziell lebensbedrohliche Manifestationen (d. h. insbesondere bei unkomplizierter RA) und bei anhaltender Remission und persistierender B‑Zell-Depletion und/oder Hypogammaglobulinämie eine Verschiebung der RTX-Gabe erwogen werden. Dieses sollte unter Abwägung des Risikos für ein Rezidiv erfolgen. Ob eine B‑Zell-Depletion und/oder Hypogammaglobulinämie tatsächlich Risikofaktoren für einen schweren COVID-19-Verlauf darstellen, ist allerdings nicht geklärt. In keinem Fall sollte die Anwendung von RTX zur Remissionsinduktion bei organbedrohender Systemerkrankung (wie GPA/MPA) verzögert werden.

Neubeginn/Umstellung einer antirheumatischen Therapie

  • Eine antirheumatische Therapie sollte nicht aufgrund der COVID-19-Pandemie unterbleiben, verzögert oder unterdosiert werden, wenn die ERE eine solche Therapie erfordert.

  • Eine Empfehlung für ein bestimmtes DMARD kann bei Neueinstellung aktuell nicht gegeben werden. Bei bestehenden Alternativen kann erwogen werden, den Einsatz von Substanzen mit kurzer Halbwertszeit (HWZ) zu bevorzugen.

  • Bei validen Alternativen (z. B. bei der RA) sollte der Einsatz von RTX wegen der langen B‑Zell-Depletion, einer potenziell eingeschränkten Impfantwort (auch in Bezug auf zukünftige SARS-CoV-2-Impfstoffe) sowie angesichts von Fallberichten über fatale und komplexe COVID-19-Verläufe [24, 25] kritisch hinterfragt werden. Eine Nutzung von RTX zur Remissionsinduktion bei Systemerkrankungen (z. B. bei ANCA-assoziierten Vaskulitiden) sollte allerdings nicht aus Sorge vor COVID-19 unterbleiben.

  • Bekannte Protokolle (z. B. bei RZA, AAV) mit reduzierter GC-Gabe sollten bevorzugt werden [26, 27].

4.2 Patienten mit Kontakt zu SARS-CoV-2-positiver Person und ohne eigene COVID-19-Infektzeichen

  • Die Therapie sollte, wie unter Punkt 5.1 beschrieben, fortgeführt werden. Bei Auftreten von Symptomen sollte umgehend eine Kontaktaufnahme mit einem Arzt bzw. Rheumatologen erfolgen (s. Punkt 4.3).

4.3 Patienten mit Kontakt zu SARS-CoV-2-positiver Person und eigenen COVID-19-Infektzeichen

  • Es sollte umgehend ein Abstrich auf SARS-CoV-2 erfolgen.

  • Eine Therapieänderung sollte bei leichten Symptomen und fehlendem Fieber nicht erfolgen.

  • Bei deutlichen Infektzeichen und insbesondere Fieber (>38 °C) sollte die antirheumatische Medikation pausiert werden.

  • Eine etwaige GC-Dauertherapie <10 mg/Tag Prednisolonäquivalent sollte in gleicher Dosis fortgesetzt werden.

4.4 Patienten positiv auf SARS-CoV-2 getestet (PCR) und ohne COVID-19-Infektzeichen

  • Ein Pausieren oder Herauszögern einer ts- oder bDMARD-Therapie für die Dauer der mittleren Inkubationszeit sollte erwogen werden. Da häufig nicht bekannt ist, wann eine Infektion erfolgt ist, sollte, sofern weiter Symptomfreiheit vorliegt, eine Pause für 5 bis 6 Tage nach Abstrich erwogen werden.

  • Eine etwaige GC-Dauertherapie <10 mg/Tag Prednisolonäquivalent sollte in gleicher Dosis fortgesetzt werden.

  • csDMARDs sollten nicht abgesetzt werden.

4.5 Patienten positiv auf SARS-CoV-2 getestet (PCR) und mit COVID-19-Infektzeichen

  • Eine etwaige GC-Dauertherapie <10 mg/Tag Prednisolonäquivalent sollte in gleicher Dosis fortgesetzt werden.

  • DMARDs sollten in dieser Situation pausiert werden.

  • Bei Einnahme von Leflunomid sollte wegen der langen HWZ der Substanz ein Auswaschen erwogen werden.

  • Eine möglicherweise günstige Wirkung von bDMARDs und tsDMARDs auf den Verlauf von COVID-19 wird derzeit getestet. Es kann daher im Einzelfall auch eine Fortführung der Therapie mit diesen Substanzen erwogen werden.